Verfremdung
Um die Reflexion des Gesehenen zu ermöglichen, dient dem epischen Theater das Werkzeug der Verfremdung, auch V-Effekt genannt (vgl. Kittstein 2008, S. 39). “Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, den Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen” (Brecht 1036, S. 109). Die Vertrautheit gesellschaftlicher Phänomene soll durch künstlich geschaffene Verfremdungsmechanismen aufgehoben und so eine Basis für Veränderungen geschaffen werden (vgl. Kittstein 2008, S. 39). Die kritische Haltung der Partizipanten wird gefördert. Aus einer “unreflektierten Ausgangssituation” (Kittstein 2008, S. 39) wird so durch Verfremdung ein neues, vertieftes Verständnis der Realität generiert. “Der Zweck dieser Technik des Verfremdungseffektes war es, dem Zuschauer eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden Vorgang zu verleihen. Die Mittel waren künstlerische” (Brecht 1940, S 168). Das Publikum wird daher nicht “in Bann gezogen” (Brecht 1940, S. 168), sondern von der Thematik abgehoben und außenstehend. Eine Identifikation mit dem Helden und daraus folgendem unreflektierendem Gehorsam wird unterbunden (vgl. Geiger/Haarmann 1996, S. 77).
Verfremdung steht dabei im Gegensatz zur Einfühlung, welche auch im aristotelischen Theater zum tragen kommt. Dort sollen die dargestellten Handlungen und Verhaltensweisen durch den Zuschauer nachgeahmt werden, was durch eine Einfühlung in die Rolle des Schauspielers und die Verhaltensweisen der verkörperten Dramenfigur erzielt wird (vgl. Brecht 1936, S. 24). Einfühlung in “änderbare Menschen, vermeidbare Handlungen, überflüssigen Schmerz [...] ist nicht möglich” (Brecht 1936, S. 105), demnach basiertes das Konzept der Einfühlung auf der Unveränderbarkeit der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Sind soziale Systeme statisch, Menschenbilder nicht wandelbar, so kann sich das Publikum mit den gezeigten Personen identifizieren, ohne das Verhalten kritisch zu hinterfragen, da keinerlei Diskussionsbedarf besteht (vgl. Brecht 1936, S. 105). Lehrgehalt konnte nur suggestiv vermittelt werden (vgl. Brecht 1936, S. 106).
Als Form der Verfremdung könnte beispielsweise die Historisierung gesehen werden (vgl. Kittstein 2008, S. 39), ähnlich der Diskursivität bei Marotzki. Dabei wird die Wandlung menschlicher Handlungen anhand von historischem Verhalten und mittels veränderbaren Umständen, welche in Abhängigkeit zur Handlung stehen, veranschaulicht (vgl. Kittstein 2008, S. 39). Es sollen historisch gewachsene Gesellschaftsformen nicht als unantastbar dargestellt werden, die Zuschauer sich nicht im geschichtlichen Einklang mit den Akteuren des Stücks identifizieren (vgl. Mayer 1986, S. 33). Vielmehr spiegelt dieses Geschichtsbewusstsein die Veränderung und Veränderbarkeit der demonstrierten Vorgänge wider (vgl. Mayer 1986, S. 33). Der Schauspieler nimmt so die Position eines Historikers ein, da ihm der Plot der Geschichte sowie die gesellschaftlichen Hintergründe bekannt sind. Er wird durch das Memorieren der ersten Eindrücke dazu befähigt, eine distanzierte Haltung einzunehmen und das Verhalten seiner eigenen Figur kritisch zu bewerten sowie dies durch Verfremdungsmechanismen auf das Publikum zu übertragen (vgl. Brecht 1940, S. 169f).
Es lassen sich dabei drei Ebenen des Verfremdungseffektes differenzieren, welche die verschiedenen Erscheinungsformen von diszanschaffenden Methodiken kategoriesieren.
- Konstruktion und Aufbau der Stücke
- sprachliche Gestaltung
- Aufführungspraxen inklusive der Inszenierung, des Bühnenbildes, der Beleuchtung, der Musik sowie des Schauspiels