Ebene 2 im Vergleich
Die zweite Ebene des Verfremdungseffektes nach Brecht thematisiert die sprachliche Ausgestaltung der Stücke. Dabei bezieht Brecht sich hauptsächlich auf die textliche Formulierung von Niederschriften (vgl. Kittstein 2008, S. 41 ), welche im Film aber nur äußerst begrenzt zum Tragen kommen können. Hier sollen daher veränderte Sprachweisen, Sprachspiele oder auch Besonderheiten in der sprachlichen Gestaltung der Akteure erläutert werden, wie beispielsweise größere Gesprächspausen.
Dogville
Bezüglich der eingesetzten sprachlichen Gestaltung lassen
sich bei den Akteuren Dogvilles nur wenige Verfremdungseffekte feststellen. Die
Wortwahl und Intonation der einzelnen Charaktere entspricht ihrem Wesen. Grace
und Tom beispielsweise reden mit Bedacht und wählen ihre Worte treffend und
intelligent. Vera, die ihren Kindern Unterricht in der griechischen Mythologie
erteilt und an sich und ihrer Umgebung einen hohen moralischen Maßstab ansetzt,
redet ebenfalls sehr korrekt und beinah übertrieben förmlich. Ben, der von den
Bewohnern eher belächelt und von oben herab behandelt wird, da er das Hurenhaus
besucht, drückt sich weniger gewählt und eher dümmlich aus (siehe Filmbeispiel). Der grobe,
wortkarge Chuck redet mit einer rauen Stimme und zumeist in kurzen Sätzen,
wohingegen der eitle, jedoch intellektuelle Jack Mc Kay eine ausdruckvolle und
ausschmückende Wortwahl nutzt. Die Redensweisen der Akteure spiegeln somit
ihren Status und ihre Auffassungsgabe wider. Ein weiteres sprachliches Merkmal
wird durch die Sprachgeschwindigkeit umgesetzt. In Dogville wird eine
natürliche Sprechgeschwindigkeit umgesetzt, wobei oftmals lange Pausen zwischen
den einzelnen Erzählanteilen liegen, welche zwar dem natürlichen Sprechfluss
zwischen Gesprächspartnern entspricht, für einen Film jedoch sehr lang wirkt.
In den meisten filmischen Werken werde Dialoge mit weniger Pausen
geschauspielert, als sie in der Realität vorkommen, was die Gewohnheiten des
Zuschauers solcher Filme auf eine solch geraffte Darstellung angepasst hat. Der
Sprechwechsel in Dogville erscheint aus diesem Grund länger, als gewohnt und
somit etwas befremdlich.
[Video 1: Sprachweisen in Dogville]
Die Beschreibung des Erzählers erfolgte bereits zu einigen
Teilen in der Ebene 1 der Verfremdungseffekte. Erneut betont werden soll an
dieser Stelle, dass der Sprecher keine stark negativ konnotierten Worte
verwendet, wenn er äußerst grausame und emotionale Situationen kommentiert. Er
spricht an einigen Stellen mit dunklem Humor, was sein Kommentar nach der
Vergewaltigungsszene durch Chuck verdeutlicht: „Und wieder war Grace auf
wundersame Weise mit der Hilfe der Bürger Dogvilles die Flucht vor ihren
Verfolgern gelungen. Alle deckten sie, darunter auch Chuck […].“ (1:32:42) Hier
wird an der wohl unpassendsten Szene des gesamten Films von dem Erzähler ein
Wortspiel eingebracht, was den Zuschauer nicht schmunzeln, sondern eher stutzen
und echauffieren lässt. Durch diesen Witz wird die Handlung ins Lächerliche
gerückt und die Tat der Vergewaltigung wird weniger ernst genommen.
Der Besuch der alten Dame
Es lassen sich im Film der Besuch der alten Dame keine sprachlichen Mittel zur Reflexionsförderung finden. Lediglich besondere Ausdrucksformen der einzelnen Akteure wirken für die Handlung unterstützend wirken. So äußert sich Claire Zachanassian meist in einem gehobenen Sprachspiel, was ihre Macht sowie ihre gesellschaftlichen Position verdeutlicht, während vor allem der Bürgermeister Matthias Büsung sowie der Bankier Oliver Marx in legerer Sprache kommunizieren, sich also nicht übermäßig gewählt ausdrücken. Die folgende Szene verdeutlicht dies. Es wird ein Gespräch zwischen Claire Zachanassian, welche soeben die Stadt Güllen erreicht, sowie Alfred gezeigt, welcher als Repräsentant der Stadt auserwählt wurde. Es lässt sich hierbei sehr gut die verdeutlichende Wirkung der Sprache feststellen, da Claires Artikulation sowie ihre Wortschatz ihren Status innerhalb der Gesellschaft widerspiegelt, wohingegen Alfreds Konserversationsversuch eher minderwertigen oder zumindest dörflichen Charakter zeigt. Es wird hier die Weltfremdheit der Güllener anhand von Alfred symbolisiert.
[Video 2: Sprachweisen im Besuch der alten Dame]
Diese Szenerie kann exemplarisch für die gesamte Struktur der sprachlichen Ausgestaltung des Filmes angesehen werden. Die Güllener sprechen dabei meist ihrer Herkunft entsprechend dörflich und weltfremd, wohingegen Claire sowie ihr Butler stets adäquate, nicht zufällig gewählte Ausdrucksformen vorweisen. Eine Ausnahme bildet der Rektor, welcher, möglicherweise aufgrund seiner Profession, einen gehobeneren Sprachstil verwendet. Da sich dessen Ausdrucksform aber während des gesamten Filmes konstant bewegt und selbst im alkoholisierten Zustand, in welchem er sich gegen Handlungsende des öfteren befindet, stets adäquat und gehoben erscheint, lässt sich darauf schließen, dass durch die Formulierungen und Redensweisen der Bürger lediglich der Charakter der jeweiligen Person wiedergegeben wird, nicht aber eine Stimmung der Gruppe, da sich sonst auch die Sprache des Direktors an den moralischen Verfall Güllens anpassen müsste. Dies verdeutlicht wiederum, dass keine Reflexionspotenziale nach Brecht freigesetzt werden, da weder Brüche noch Unstimmigkeiten durch den sprachlichen Aufbau hergestellt werden, sondern ein einheitliches, einvernehmendes Bild geschaffen wird.
Zusammenfassung
Betrachtet man nun die sprachliche Ebene der Filme, so lassen sich nur wenige Unterschiede in der Verwendung brechtscher Verfremdungseffekte finden. So ist beiden Filmen eine an den Charakter angepasste Wortwahl sowie ein adäquater Redefluss gemein, wenngleich auch die Pausenabstände zwischen dem Gesagten in Dogville vermert und in extremerem Ausmaß auftreten. Dogville besitzt im Gegensatz zum Vergleichsfilm einen Erzähler, welcher durch die unpassende Verwendung harmonisierender Ausdrücke einen Bruch beim Zuschauer erzeugt und somit, wenn auch gering, ebenso auf sprachlicher Ebene Verfremdungstechniken anwendet und infolgedessen Reflexion freisetzt.