Brecht im Kontext -
Aristoteles, Friedrich Dürrenmatt und Winfried Marotzki
Verfremdungsmechanismen, wie von Brecht verwendet, finden sich aber nicht nur im epischen Theater, auch die Dramentheorie Dürrenmatts sowie die Involvement-Theorie Marotzkis aus neuer Zeit verwenden Mechanismen der Verfremdung. Zunächst allerdings soll eine Abgrenzung zum aristotelischen Theater erfolgen, von welchem sich Brecht distanziert.
Aristoteles
Im Gegensatz zum epischen Theater steht das Aristotelische, welches als Flucht aus der Realität dient und somit keinerlei reflexiven Potenziale besitzt (vgl. Kittstein 2008, S. 37). Es eignet sich lediglich zur Unterhaltung der „von sozialen und ökonomischen Zwängen bedrängten Zuschauer“ (Kittstein 2008, S. 37). Diese passive Nutzung lässt das aristotelische Theater zu einem Ort der Ruhe und des Erlebens werden, tangiert dabei allerdings die lebensweltliche, gesellschaftskritische Sphäre nicht (vgl. Kittstein 2008, S. 37). Der Zuschauer soll sich mit den Protagonisten identifizieren, was den Raum für die Reflexion des Gesehenen verringert (vgl. Kittstein 2008, S. 38). “Dem Publikum fehlt nun jegliche Distanz zu der dargebotenen Handlung und zu den Figuren, und so wird es das Geschehene als selbstverständlich und unabänderlich [...] hinnehmen” (Kittstein 2008, S. 38). Das brechtsche Theater hingegen konfrontiert den Partizipanten mit seiner Lebenswelt und bietet so Einsichten, die den Menschen in seiner Handlungsfähigkeit unterstützen und sozial-kommunikative Verhaltensregeln demonstrieren (vgl. Kittstein 2008, S. 37). Dies wird durch eine gesteigerte Distanz zum Schauspiel erreicht. Das Publikum soll so zu einem aktiven Erkenntnisgewinn angeregt werden und die Handlungen der Figuren abwägen und bewerten (vgl. Kittstein 2008, S. 38).
Diese
Unterschiede resultieren auf den differenten Menschenbildern der
vorherrschenden Zeit. Sind im Zeitalter der Antike die Menschen ihrem
Schicksal sowie ihren Trieben und Passionen unterworfen und in ihrer
Position und gesellschaftlichen Stellung gefangen, so ist Anfang des 20.
Jahrhunderts eine zunehmende Individualisierung festzustellen (vgl.
Kittstein 2008, S. 38f). Dadurch wird im aristotelischen Sinne die
Unveränderbarkeit der gesellschaftlichen Ordnung sowie menschlicher
Handlungen durch passives Einbeziehen der Zuschauer impliziert, während
im epischen Theater durch reflexive Komponenten soziale Handlungen
projiziert und durch den Zuschauer beurteilt werden sollen, wodurch eine
gezielte Veränderung gesellschaftlicher Systeme erreicht werden kann
(vgl. Kittstein 2008, S. 39).
Friedrich Dürrenmatt
[Abb. 3: Alfred Dürrenmatt]
Auch
Friedrich Dürrenmatt versucht mit seinen Werken Reflexion und Entsetzen
zu provozieren (vgl. Knopf 1987, S. 7). “Für den Inhalt bedeutet dies,
daß bei Dürrenmatt keine üblichen Schönheiten, schon gar nicht Idyllen
oder Harmonien zu erwarten sind” (Knopf 1987, S. 7). Ähnlich wie Brecht,
dessen episches Theater von der Gesellschaft bestimmt ist und
Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zeigen soll, will
Dürrenmatt “eine Welt in ihrem Untergang, in ihrer Verzweiflung, aber
auch in ihrem Glanz, der jedem Ding anhaftet, das untergeht” darstellen,
denn “der Einzelne steht einer Welt gegenüber, die für ihn
undurchschaubar ist” (Knopf 1987, S. 8f). Dürrenmatt verallgemeinert
dabei jedoch die, von Brecht beschriebenen gesellschatftlichen
Verhältnisse und präsentiert sie in einem komödiantischen Kontext, wobei
hierbei nicht die Personen selbst, sondern lediglich deren Situation
komisch ist (vgl. Knopf 1987,S. 9). Dieser Kontext erschließt sich dabei
für ihn aus der Welt selbst. In einem Interview Dürrenmatts,
durchgeführt von Fritz J. Raddatz, aus dem Jahre 1985 erläutert er die
Notwendigkeit einer komödiantischen Sichtweise. “Nicht ich lasse die
Welt grimassieren, die Welt grimassiert. Blicke ich der heutigen Welt
ins Gesicht, erblicke ich eine Fratze. Soll ich sie ins Erträgliche
schminken” (Dürrenmatt, zit. n. Raddatz 1985, S. 33)? So fordert die
Komödie vom Zuschauer auch, “sich durch das unwirkliche Spiel in der
Wirklichkeit seines Alltages und seiner Gewohnheiten in Frage stellen zu
lassen” (Knopf 1987, S. 14). Der Zuschauer selbst soll also durch das
Stück die Realität aufgezeigt bekommen und diese dadurch erkennen.
Auch Dürrenmatt nutzt dabei das Mittel der Verfremdung. Dabei ist der Plot selbst, in seiner komisch-groteskten Fasson, bereits ein Mittel der Verfremdung. So “spielten sich die Komödien [im Gegensatz zu Tragödien] in der Gegenwart ab und schafften die (erwünschte) Distanz durch das Groteske” (Knopf 1987, S. 20). Dürrenmatt meint also, dass nur durch die Komödie die Gegenwart dargestellt werden könne, da die Tragödie eine bereits geschaffene Distanz voraussetzt.
Was Dürrenmatt nun von Brecht trennt, ist der Glaube an die (Un-)Veränderbarkeit der Welt. “Er glaubt an eine Welt, die veränderbar ist, nach dem Motto: richtige Wissenschaft - richtige Politik - richtige Menschen. Nun ist weder der Mensch ‘richtig’ noch die Wissenschaft, noch die Politik. Die Welt verändert sich durch den Menschen, aber der Mensch verändert sich nicht und fällt der durch ihn veränderten Welt zum Opfer” (Dürrenmatt, zit. n. Raddatz 1985, S. 33). Dürrenmatt widersprich Brecht also im Lehrgehalt der Veranstaltungen, befürwortet aber die distanzschaffenden Hintergrund, welcher durch die Komödie geschaffen wird. Es wird hier ebenfalls die Vergänglichkeit deutlich, welche Dürrenmatt im Gegensatz zu Brechts Veränderbarkeit ansieht (vgl. Dürrenmatt, zit. n. Raddatz 1985, S. 34). So sind gesellschaftliche Verhältnisse zwar veränderbar, nicht aber die Menschen selbst. Diese sind lediglich vergänglich.
Auch Dürrenmatt nutzt dabei das Mittel der Verfremdung. Dabei ist der Plot selbst, in seiner komisch-groteskten Fasson, bereits ein Mittel der Verfremdung. So “spielten sich die Komödien [im Gegensatz zu Tragödien] in der Gegenwart ab und schafften die (erwünschte) Distanz durch das Groteske” (Knopf 1987, S. 20). Dürrenmatt meint also, dass nur durch die Komödie die Gegenwart dargestellt werden könne, da die Tragödie eine bereits geschaffene Distanz voraussetzt.
Was Dürrenmatt nun von Brecht trennt, ist der Glaube an die (Un-)Veränderbarkeit der Welt. “Er glaubt an eine Welt, die veränderbar ist, nach dem Motto: richtige Wissenschaft - richtige Politik - richtige Menschen. Nun ist weder der Mensch ‘richtig’ noch die Wissenschaft, noch die Politik. Die Welt verändert sich durch den Menschen, aber der Mensch verändert sich nicht und fällt der durch ihn veränderten Welt zum Opfer” (Dürrenmatt, zit. n. Raddatz 1985, S. 33). Dürrenmatt widersprich Brecht also im Lehrgehalt der Veranstaltungen, befürwortet aber die distanzschaffenden Hintergrund, welcher durch die Komödie geschaffen wird. Es wird hier ebenfalls die Vergänglichkeit deutlich, welche Dürrenmatt im Gegensatz zu Brechts Veränderbarkeit ansieht (vgl. Dürrenmatt, zit. n. Raddatz 1985, S. 34). So sind gesellschaftliche Verhältnisse zwar veränderbar, nicht aber die Menschen selbst. Diese sind lediglich vergänglich.
Winfried Marotzki
[Abb. 4: Winfried Marotzki]
Ähnlich zu Brecht wird das Verhältnis von Distanz und Einfühlung in neuerer Zeit auch von Winfried Marotzki
(2007) thematisiert. Er argumentiert, dass Erinnerungsarbeit auf die
Distanzierung zu den Ereignissen basiert, denn wenn wir erinnern
wollen, so müssen wir uns deren im Klaren sein (vgl. Marotzki 2007, S.
79). “Das auf Distanzbringen der Vergangenheit ist nicht vergessen,
sondern die Distanz ermöglicht es uns, eine Haltung zu ihr einzunehmen”
(Marotzki 2007, S. 79). Diese Haltung ermöglicht es, das durch das
Erinnern präsent gemachte kritisch zu hinterfragen und zu analysieren
(vgl. Marotzki 2007, S. 79). Filmisch können hierfür eine komplexe,
durch Brechungen gekennzeichnete Narrationsstruktur oder
Modalisierungselemente, also nachträgliche Rahmen- oder Ebenenwechsel,
eingesetzt werden (vgl. Marotzki 2007, S. 88). “Ein Rahmenwechsel mit
modalisierender Funktion liegt vor, wenn durch den Rahmenwechsel
deutlich wird, dass wir uns jetzt auf einer anderen Wirklichkeitsebene
befinden, oder dass das, was wir eben gesehen haben, nicht Wirklichkeit
war, wie wir angenommen haben, sondern beispielsweise ein Traum oder
ein Film” (vgl. Marotzki 2007, S. 89). Aber nicht nur nachträglich
können distanzschaffende Modalisierungen verwendet werden, auch im
Vorfeld ist dies durch das bewusste Aufzeigen eines anderen Kontextes
möglich (vgl. Marotzki 2007, S. 91). Neben der Narrationsstruktur sowie
eines Rahmenwechsels kann auch die Diskursivität Reflexionspotenziale
hervorrufen (vgl. Marotzki 2007, S. 92). Ähnlich der Historisierung
Brechts werden hier geschichtliche Bezüge hergestellt, Vergangenheit
aufgearbeitet und Erinnerungen ausgetauscht (vgl. Marotzki 2007, S. 92).
Durch diesen Austausch an Erlebnissen, welche in einem diskursiven
Zusammenhang stehen, ist es möglich, über die Reflexion eigene
Erinnerungen neu zu werten.
Brecht grenzt sich also gewollt vom aristotelischen Theater ab und konstruiert auf Grundlage dessen eine neue Form des Theaters. Brecht wiederum wurde von Dürrenmatt aufgegriffen, welcher sich abermals vom epischen Theater abgrenzt. Und auch Marotzkis Theorie der Erinnerungsarbeit im Film basiert auf der Brechtschen Theaterauffassung. Da Brecht also für viele Theorien Anstoß war und sich nicht dem konventionellen Theater Aristoteles anschließt, sollen die Verfremdungsmechanismen Brechts als Grundlage für eine Hypothesenüberprüfung dienen.