Konsequenzen für den Film
Betrachtet werden muss nun, wie sich der Film, welcher den Zuschauer in seinen Bann ziehen soll und zur Abbildung der Realität dient, mit der gegensätzlichen Theorie des epischen Theaters vereinbaren lässt. Diffizil sind dabei die im Theater verwendeten Mittel der Verfremdung, welche in Filmen keine oder nur wenig Wirkung entfalten (vgl. Lang 2006, S. 33). Spricht ein Schauspieler beispielsweise direkt das Publikum an, was in Theatervorführungen zu einem Bruch der Handlung führt und den Zuschauer aus seiner Illusion reißt und so zur Kritikfähigkeit bringen soll, ist dies im Film nur bedingt möglich, da Ansprache und Reaktion in unterschiedlichen Kontexten entstehen und keine direkte Interaktion möglich ist (vgl. Lang 2006, S. 33).
Vor allem eine sichtbare Montage, also deutlich wahrnehmbare Schnitte im Film können den Eindruck der Realitätsabbildung verhindern (vgl. Lang 2006, S. 30). Beispielshaft hierfür könnten die Jumpcuts im Film Dogville stehen. Dadurch wird die Identifikation, das Eintauchen des Zuschauers in die gezeigten Verhältnisse verhindert. Er nimmt den Film als solches wahr und ist sich bewusst, dass dieser nicht die unveränderbare Realität widerspiegelt. “Die Geschehnisse dürfen sich nicht unmerklich folgen, sondern man muß mit dem Urteil dazwischen kommen können” (vgl. Brecht, kleines organon, S. 92). Dabei wird auch deutlich, dass im Film durch den Schnitt sowie die Kameraperspektive der Blickwinkel des Zuschauers bereist vorgegeben wird. Nicht wie im Theater hat der Rezipient hier keine Möglichkeit, den Blick vom gezeigten Bildausschnitt abzuwenden (vgl. Lang 2006, S. 53). Auch das Setting kann der zunehmenden Einfühlung entgegenwirken. Eine puristische Kulissengestaltung kann das Wesentliche, die sozialen Interaktionen und Handlungen, hervorheben. Die musikalische Gestaltung erfolgt nicht als Hintergrundmusik, sondern vertieft das Geschehen und zeigt neue Aspekte des Kontextes (vgl. Lang 2006, S. 41). Auch die Sprachspiele der Schauspieler basieren auf Brüchen, um das Geschehen kritisch hinterfragen zu können. So finden lange Pausen und realistische Originalgeräusche Verwendung. Die Texte werden nicht authentisch, sondern zitiert vorgetragen, das Gesamtbild des Schauspiels vertuscht die Willkürlichkeit der gewählten Situation und Handlung nicht (vgl. Lang 2006, S. 41). Dabei ist zu bedenken, dass durch die Montage im Film das Schauspiel der Darsteller in neue Kontexte gesetzt werden kann. wird eine Großaufnahme beispielsweise mit unterschiedlichen Schnittbildern untermalt, so kann sie in diversen Kontexten und unterschiedlichen Situationen wahrgenommen werden, bleibt letztlich aber eine Großaufnahme (vgl. Lang 2006, S. 67f). Dies macht es für den Schausteller im Film schwer, aus seiner Rolle auszubrechen und Distanz aufzubauen, da das Schauspiel durch die Montage in neues Licht gerückt wird.
Eine einheitliche, mit dem Theater vergleichbare Theorie entwickelte Brecht zum Film allerdings nicht (vgl. Lang 2006, S. 39).