Ebene 1 im Vergleich
In der ersten Ebene der Brechtschen Verfremdungseffekte werden Erscheinungsformen der Konstruktion sowie des narrativen Aufbaus der Filme betrachtet. Zu untersuchen ist hierbei der vorhandene Spannungsbogen sowie der Einsatz von medialen Mitteln zur Historisierung und somit vertieften Erläuterung des Geschehenen. Die Helden verkörpern keinen unveränderbaren Urmenschen, sondern sind historisch gewachsen und durch Veränderungen geprägt. Wie Verfremdungseffekte der ersten Ebene in den beiden Filmen umgesetzt wurden, wird nun im Folgenden beschrieben.
Dogville
Der Aufbau der Handlung folgt in Dogville nicht der
klassischen Dramentheorie. Zwar ist, wie in jeder filmisch umgesetzten
Geschichte, eine Expotition in Form des Prologes, eine Katastrophe in Form des
finalen tödlichen Racheaktes und eine sich zuspitzende Entwicklung erkennbar,
entspricht jedoch eher einem allgemeinen Aufbau einer für sich abgeschlossenen
Erzählung. Innerhalb dieses allgemeinen Spannungsbogens gibt es einen Prolog und
9 daran anschließende Kapitel. Diese Kapitel verfolgen in den meisten Fällen
ihren eigenen Spannungsbogen, was am Beispiel des dritten Kapitels verdeutlicht
werden kann. Hier leitet die Erzählstimme das Kapitel zunächst mit
Informationen der vergangenen zwei Wochen ein und schafft dadurch ein
Verständnis für die gegenwärtige Ausgangslage. Im Anschluss daran wird eine
Situation gezeigt, in welcher Grace Mr. Mc Kay bezüglich seiner bisher
verleugneten Blindheit provoziert. Diese Szene ist äußerst spannend und wird im
Verlauf des Kapitels wieder entschärft. Mc Kay verweist Grace zwar zunächst
seines Hauses, aber stimmt letzten Endes (am Ende des Kapitels) für ihren
Verbleib. Es wird deutlich, dass durch die einleitenden Worte sowie den
Spannungsanstieg mit anschließender Entspannung innerhalb des Kapitels ein
eigener Bogen gespannt wurde und eine alleinstehende Geschichte in der Gesamthandlung
dargestellt wurde. Eine Austauschbarkeit der einzelnen Kapitel untereinander,
wie es gemäß der Brechtschen Verfremdungseffekte möglich wäre, ist in diesem
Rahmen jedoch nur sehr begrenzt realisierbar. Trotz der Darstellung von vielen
einzelnen Handlungssequenzen, knüpfen diese dennoch an die vorangegangene
Sequenz an und werden mitteln Kapitelüberschriften vor schwarzen Hintergrund
eingeleitet (siehe Abb.1).
Dieser Einsatz von Überschriften entspricht einem brechtschen
Verfremdungseffekt mit Hilfe erzählerischer Mittel. Dem Zuschauer wird
verdeutlicht, dass es sich um eine erdachte Erzählung mit abgegrenzten
Szenen
und Überschriften handelt, welche im realen Umfeld so niemals
anzutreffen ist.
Dieser Aspekt wird zusätzlich durch den Einsatz einer außenstehenden,
nicht in
die Geschichte involvierten Erzählfigur verdeutlicht. Die männliche
Off-Stimme kommentiert
und informiert in oftmals kindlich, ironischer Weise die subjektiven
Rechtfertigungen der einzelnen Bürger. Er nimmst niemals emotional
negativ geladene Worte in den Mund. Dies zeigt sich darin, dass trotz
vieler Vergewaltigungsakte nie von einer Vergewaltigung die Rede ist,
sondern lediglich von dem Einfordern von Respekt oder einem Vergleich
zum Vergehen an einer Kuh. Eine anschließende objektive Wertung der
Ereignisse folgt nicht, sodass der Zuschauer sich selbst eine Meinung
über die
Geschehnisse und die darin verwickelten Charaktere bilden muss und
gezwungen
ist zu reflektieren. Einer Identifizierung mit einem speziellen Akteur
wird
vorgebeugt, indem der Erzähler die Ansichten unterschiedlicher Personen
vorstellt und dadurch viele Standpunkte gegenüberstellt und
nachvollziehbar
rechtfertigt. Der Zuschauer läuft somit nicht Gefahr, sich in einen
Charakter
zu verlieren.
Die Musik findet in Dogville zwar einen vergleichsweise kargen, aber dennoch handlungsunterstützenden und somit involvierenden Einsatz. An einigen Stellen werden brutale und dramatische Entwicklungen ohne Musik oder anderweitiger Tonverstärkung dargestellt, sodass ein leerer Klangraum während einer solchen Situation zu verzeichnen ist. Für den Zuschauer wirkt dies ungewohnt, da in Hollywoodmustern stets eine musikalische Untermalung in emotionalen Situationen verwendet wird.
Im Sinne Brechts werden Projektionen bzw. Darstellungen von historischen Originalbildern der Depression im Abspann des Filmes gezeigt. Diese ermöglichen dem Publikum eine reale geschichtliche Einbettung und informative (siehe Diashow 1) Grundlage der Filmhandlung, sodass er erneut feststellt, dass die zuvor gesehene Geschichte keine Realität war, im Gegensatz zu den Bildern.
Die Musik findet in Dogville zwar einen vergleichsweise kargen, aber dennoch handlungsunterstützenden und somit involvierenden Einsatz. An einigen Stellen werden brutale und dramatische Entwicklungen ohne Musik oder anderweitiger Tonverstärkung dargestellt, sodass ein leerer Klangraum während einer solchen Situation zu verzeichnen ist. Für den Zuschauer wirkt dies ungewohnt, da in Hollywoodmustern stets eine musikalische Untermalung in emotionalen Situationen verwendet wird.
Im Sinne Brechts werden Projektionen bzw. Darstellungen von historischen Originalbildern der Depression im Abspann des Filmes gezeigt. Diese ermöglichen dem Publikum eine reale geschichtliche Einbettung und informative (siehe Diashow 1) Grundlage der Filmhandlung, sodass er erneut feststellt, dass die zuvor gesehene Geschichte keine Realität war, im Gegensatz zu den Bildern.
|
Bezüglich
des Hauptakteurs lassen sich ebenfalls Verfremdungseffekte in Brechts Sinn
feststellen. Grace vollzieht im Verlauf des Films einen ungemeinen charakterlichen
Wandel. Sie gerät aus einer finanziell abgesicherten und für sie arbeitsarmen
Lebenslage in eine komplett neue Situation, welche geprägt ist von den Folgen
der Depression: Armut, Nahrungsknappheit und die Notwendigkeit harter
körperlicher Arbeit. In diese neue Situation fügt sie sich ein und lernt
schnell mit Hilfe der Bewohner die anfallenden Arbeiten zu verrichten und ihr
eigenes kleines Geld zu verdienen. Dies beweist Graces Entwicklungsfähigkeit bezüglich
ihrer Fertigkeiten. Doch auch ihre Ansichten entwickeln und verändern sich
durch die Zeit in Dogville. Aufgrund ihrer Vergangenheit verabscheute sie
Arroganz und legte ein gegensätzliches, von Barmherzigkeit gekennzeichnetes
Verhalten an den Tag. Nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Vater, erkennt
sie, dass ein Mindestmaß an Arroganz nötig ist, um mit Menschen menschenwürdig
umzugehen. Diese Erkenntnis führt
rückwirkend zu einer Revidierung ihrer verzeihenden Art und sie rächt
sich Fürchterlich an den Bewohnern Dogvilles für ihr Verhalten. Diese extremen
Wendungen in Grace verkörpern einen nach Brecht veränderbaren und aus der
Historie gewachsenen Menschen. Neben diesem Charakterwandel wird Grace durch
Widersprüche in ihrer Person verfremdet. Der Erzähler berichtet, dass Grace das
letzte Mal in ihrer Kindheit geweint habe, da sie in der daran anschließenden
Zeit im Verdrängen geübt wurde. Es wirkt für den Zuschauer verständlich, dass
Grace seit dieser Zeit das erste mal wieder in Tränen ausbricht, als Vera die 7
Porzellanfiguren zerbricht, die ihren Wert in Dogville symbolisierten. Weniger
nachvollziehbar ist jedoch der Tränenausbruch während des Finales. Grace
bestimmt selbst den Untergang Dogvilles und übernimmt die volle Verantwortung.
Sie selbst ordnen an, Vera auf spezielle Weise quälen zu lassen. Hinzu kommt
die von ihr ausgeführt Tötung Toms. Diese skrupellosen Verhaltensweisen passen
nicht zum Tränenausbruch Graces. Der Zuschauer kann diese beiden
Verhaltensweisen, die einerseits Gefühllosigkeit und bittere Abscheu
verdeutlichen und andererseits Mitgefühl symbolisieren, nicht vereinbaren,
sodass eine gewissen Distanz und Skepsis gegenüber dem Charakter der Grace
erwächst.
Der Besuch der alten Dame
In dem Film der Besuch der alten Dame, kann dieses Schema
nicht erkannt werden. Hier bildet die Gesamtzahl der Szenen einen
Spannungsbogen aus und wird somit zu einem runden Ganzen. Darüber hinaus
ist es möglich, die Narration in einen fünfaktigen Spannungsbogen
zu überführen, welcher dem aristotelischen Theater nahe kommt. Dieser
dient der Involvierung des Zuschauers in das Geschehen und verlangsamt
oder verhindert somit potenzielle Reflexionsprozesse. Er dient also dem
Folgen der Handlungsstränge, nicht der kritischen Auseinandersetzung.
Auch die Gestaltungsebene im Film besitzt meist einen untermauernden Charakter. Wie schon in der Analyse festgestellt, wirken die verwendeten Instrumentalstücke meist emotionalisierend und sollen das Einfühlen in die Handlung unterstützen sowie Spannung aufbauen. Vor allem in Szenen großer Gefahr, beispielsweise als Ill einen Mordversuch an Claire Zachanassian verübt, wird mittels einer indirekten Lichtgestaltung sowie dramatisierender Musik ein Gefühl der Spannung erzeugt, welche vom Zuschauer nicht direkt mit den verwendeten Mitteln in Verbindung gebracht werden. So kann davon ausgegangen werden, dass hierdurch keine kritische Reflexion gefördert wird.
Das Mittel der Historisierung konnte ebenfalls nicht festgestellt werden, da keine historisch begründeten Termini verwendet werden oder Rückbezug auf eine gesellschaftliche Vergangenheit genommen wird. Lediglich die Vergangenheit Claire Zachanassians wird thematisiert, diese aber nicht, wie angedacht, in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt, um Denkprozesse anzuregen (vgl. Mayer 1986, S. 33).
Die Heldenfigur in diesem Film, Alfred Ill, entspricht nicht dem Muster eines Protagonisten nach den Verfremdungsstrukturen Brechts. Alfred durchläuft kaum Veränderungen im Film. Auch nach der Realisation der Einstellung seiner Mitbürger, ihn lieber tot zu sehen als auf das Geld verzichten zu müssen, bricht er nicht aus seinem bisherigen Verhaltensschema aus. Er bleibt ängstlich, um nicht zu sagen feige und versucht, nach einem Gnadengesuch bei Claire selbst, über dritte Instanzen, also dem Polizist oder dem Bürgermeister, Nachsicht und Toleranz zu erzeugen. Auch nach dem ersten Mordversuch ist Alfreds Reaktion die Flucht, welche nicht von Courage zeugt. Einzig nach Abarbeitung aller Entkommensmöglichkeiten findet er sich mit seinem Schicksal ab und beginnt mit der Klärung noch ungelöster Sachverhalte seines Lebens. Auch dies wirkt dabei eher wie ein Aufgeben, eine Resignation, als eine mutige Tat, welche von Größe zeugen würde, da er seine vorbestimmte Zukunft akzeptiert ohne weitere Gegenversuche zu unternehmen. An diesen Punkten ist zu erkennen, dass sich Alfred Ill keinen, seiner Figur betreffenden, charakterlichen Veränderungsprozessen unterwerfen muss, sondern nur innerhalb seines Verhaltens auf die Situation reagiert und dadurch keine Skepsis seitens der Zuschauer über sein Handlungsmuster aufwirft (vgl. Geiger et al. 1996, S. 78).
Auch die Gestaltungsebene im Film besitzt meist einen untermauernden Charakter. Wie schon in der Analyse festgestellt, wirken die verwendeten Instrumentalstücke meist emotionalisierend und sollen das Einfühlen in die Handlung unterstützen sowie Spannung aufbauen. Vor allem in Szenen großer Gefahr, beispielsweise als Ill einen Mordversuch an Claire Zachanassian verübt, wird mittels einer indirekten Lichtgestaltung sowie dramatisierender Musik ein Gefühl der Spannung erzeugt, welche vom Zuschauer nicht direkt mit den verwendeten Mitteln in Verbindung gebracht werden. So kann davon ausgegangen werden, dass hierdurch keine kritische Reflexion gefördert wird.
Das Mittel der Historisierung konnte ebenfalls nicht festgestellt werden, da keine historisch begründeten Termini verwendet werden oder Rückbezug auf eine gesellschaftliche Vergangenheit genommen wird. Lediglich die Vergangenheit Claire Zachanassians wird thematisiert, diese aber nicht, wie angedacht, in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt, um Denkprozesse anzuregen (vgl. Mayer 1986, S. 33).
Die Heldenfigur in diesem Film, Alfred Ill, entspricht nicht dem Muster eines Protagonisten nach den Verfremdungsstrukturen Brechts. Alfred durchläuft kaum Veränderungen im Film. Auch nach der Realisation der Einstellung seiner Mitbürger, ihn lieber tot zu sehen als auf das Geld verzichten zu müssen, bricht er nicht aus seinem bisherigen Verhaltensschema aus. Er bleibt ängstlich, um nicht zu sagen feige und versucht, nach einem Gnadengesuch bei Claire selbst, über dritte Instanzen, also dem Polizist oder dem Bürgermeister, Nachsicht und Toleranz zu erzeugen. Auch nach dem ersten Mordversuch ist Alfreds Reaktion die Flucht, welche nicht von Courage zeugt. Einzig nach Abarbeitung aller Entkommensmöglichkeiten findet er sich mit seinem Schicksal ab und beginnt mit der Klärung noch ungelöster Sachverhalte seines Lebens. Auch dies wirkt dabei eher wie ein Aufgeben, eine Resignation, als eine mutige Tat, welche von Größe zeugen würde, da er seine vorbestimmte Zukunft akzeptiert ohne weitere Gegenversuche zu unternehmen. An diesen Punkten ist zu erkennen, dass sich Alfred Ill keinen, seiner Figur betreffenden, charakterlichen Veränderungsprozessen unterwerfen muss, sondern nur innerhalb seines Verhaltens auf die Situation reagiert und dadurch keine Skepsis seitens der Zuschauer über sein Handlungsmuster aufwirft (vgl. Geiger et al. 1996, S. 78).
Zusammenfassung
Es zeigt sich also, dass der Aufbau der beiden Filme szenarisch verschieden ist. Verfolgt Dogville einen epischen Aufbau, so lässt sich bei dem Besuch der alten Dame ein Dramaturgischer erkennen. Dies hat Auswirkungen auf das Reflexionspotenzial, da durch einen epischen Aufbau, welcher in jeder Szene, in jedem Akt einen Spannungsbogen verwendet und somit stets am Ende Raum für Reflexion bietet, das kritisch-distanzierte Denken gefördert wird. Ein dramaturgischer Aufbau nach Aristoteles allerdings dient der Involvierung des Zuschauers und bringt keine Brüche oder Lücken für Reflexionen zum Vorschein. Auch anhand des musikalischen Einsatzes können Unterschiede in der Distanzerzeugung erkannt werden. So wird bei Dogville Musik an jenen Stellen ausgeblendet, welche besonders erschreckend oder provozierend sind, was somit eine Distanzierung hervorruft, da sich der Zuschauer überrumpelt fühlt und überrascht ist. Bei dem zweiten Film allerdings, dem Besuch der alten Dame, wird Musik ausschließlich untermalend und emotionalisierend eingesetzt, um den Zuschauer in den Bann zu ziehen und ihm das Folgen der Handlung zu erleichtern. Auch der Protagonist im brechtschen Sinne, gekennzeichnet durch Veränderungsprozesse, ist lediglich bei Dogvilles Grace zu erkennen, da diese sich im Laufe der Geschichte diversen charakterlichen Veränderungen stellen muss, während Alfred Ill im Besuch der alten Dame stets seinem Handlungsmuster folgt.