Interpretationshypothese
Ill ist zu Beginn der Narration ein gleichberechtigter und sogar sehr beliebter Mitbürger in der Kleinstadt Güllen. Der Bürgermeister legt es in seine Hand, die reiche Claire Zachanassian zu einer finanzielle Unterstützung zu überreden. Im Gegenzug wird ihm der zukünftige Posten des Bürgermeisters angeboten. In dieser Situation wird ersichtlich, dass sie, die Individuen der Gemeinschaft eine gegenseitige Beeinflussung ausüben. Alfred Ill lässt sich von dem Bürgermeister zu dem, ihm eigentlich unangenehmen, Bittgesuch drängen. Er besitzt jedoch auch, wenn auch zunächst erst auf dem zweiten Blick ersichtlich, Einflussnahme auf das Stadtoberhaupt, da dieser ihm keinen Befehl gibt, sondern ein gleichberechtigtes Tauschangebot vorschlägt und somit Alfred als ihm ebenbürtig darstellt. Die Personen üben auf diese Weise gegenseitige Kontrolle aus, wodurch nach Foucault Disziplinarmacht gekennzeichnet wird, welche Bestandteil eines sozialen Gefüges, hier der Gemeinschaft Güllen, ist (vgl. Ruoff 2009, 149).
Dieses wechselseitig ausgewogene Machtverhältnis beginnt sich zu verändern, als die einflussreiche Claire Zachanassian ihr unmoralisches Angebot unterbreitet. Sie übt durch ihr Geldangebot eine große Anziehungskraft aus und verleitet die Bürger der Stadt, mit Ausnahme von Ill, zu einer wörtlichen Hetzjagd auf eben diesen. Die durch Medien und Finanzen gesteigerte Machtposition Claires wird nun durch die Stadtbewohner, welche in ihrem Auftrag die Jagd auf Alfred aufnehmen, repräsentiert. Die ursprüngliche gegenseite Kontrolle wandelt sich in eine einseitige, nämlich die Kontrolle der Güllener über Ill, welcher keine Einflussnahme mehr entgegenzubringen hat. Solch eine Extremform eines Machtverhältnisses wird Herrschaftsverhältnis genannt (vgl. Foucault 1984, 878).
Die Güllener wiesen das Angebot der alten Dame zunächst ab, was zeigt, dass die Entwicklung so nicht hätte stattfinden müssen und Claire Zachanassian der Stadt hätte verwiesen werden können. Mit voranschreitender Zeit lockt jedoch die Versuchung der finanziellen Beihilfe und die Gemeinschaft erkennt, welche Vorteil eine finanzielle Unterstützung in der versprochenen Höhe mit sich bringen kann. Die Scheu vor einem Mord sinkt mehr und mehr, was letzten Endes eine Entscheidung gegen Ill mit sich bringt und seinen anschließenden Tod, dessen Ursache nicht aufgedeckt wird. Alfred, welcher durch die Vorwürfe und den Anstoß der Zachanassian in eine spezielle Situation gedrängt wird, welche ihn fortan von allen anderen Einwohnern unterschiedet, muss erleben, dass seine ehemaligen Freunde zu seinen Feinden werden, die ihn nur aufgrund egoistischer Geldwünsche zum Tode verurteilen. Aus dieser Handlungsentwicklung ergibt sich folgende Interpretationshypothese, welche anhand folgender Analysen untersucht werden soll:
“Durch das Auftreten eines Individuums, welches ein Einzelschicksal
durchlebt und zunächst blindes Vertrauen an den Tag legt, kann eine nach außen
anständig und hilfsbereit wirkende Gemeinschaft zum ausbeuterischen,
gnadenlosen, selbstgierigen und heuchlerischen Verhalten ihm gegenüber gebracht
werden.”