Fazit
Werden beide Filme miteinander verglichen, so sollte sich aufgrund der herausgearbeiteten Verfremdungsmethoden bei Dogville eher eine distanzierende Wirkung beim Zuschauer einstellen, beim Besuch der alten Dame hingegen eine Einfühlung ermöglicht werden. Dies lässt sich subjektiv durch die Forschergruppe allerdings nicht feststellen. So entstand der Eindruck, dass keinerlei Emotionen freigelegt werden konnten. Dies war selbst in dramaturgisch wichtigen Szenen der Fall, wie beispielsweise während des versuchten Mordes an Claire durch Ill. Auch der gehäufte Einsatz einfühlungsfördernder Mittel, welche im Vorfeld beschrieben wurden, konnten die Zuschauer nicht zur emotionalen Beteiligung bewegen. Es wird vermutet, dass die Ursache hierfür in der gerafften Narration und einer mangelnden Ausgestaltung der Gefühlslage der Protagonisten zu suchen ist. In dem Film Dogville dagegen, welcher sich durch eine Vielzahl eingesetzter Verfremdungseffekte auszeichnet, wird subjektiv eher eine Einfühlung in die Geschichte von Grace erzielt, statt diese distanziert zu hinterfragen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass nicht nur die eingesetzten stilistischen Mittel der Verfremdung eine distanzschaffende Wirkung erzielen, sondern weitere Faktoren entscheidend sind.
Einer dieser Faktoren könnte der Detailgrad der narrativen Ausgestaltung sein, welcher scheinbar die Intensität des Involvements maßgeblich mitbeeinflusst. Durch eine ausführliche Ausgestaltung der Handlungsstränge sowie dem umfangreichen Vorstellen der Charaktere inklusive ihrer Beweggründe und Emotionen, was im Film Dogville beispielsweise durch einen erklärenden Erzähler sowie intensiven Gesprächen erreicht wird, wird das Involvement der Zuschauer erhöht. Sie können sich dadurch besser in die Figuren hinein versetzen und leiden folglich in schweren Situationen mit ihnen. Die hier eingesetzen Verfremdungseffekte erzielen demzufolge vermutlich erst ihre Wirkung, wenn der Betrachter bereits einfühlende Tendenzen aufweist. Es könnte also davon ausgegangen werden, dass Verfremdungsmechanismen erst bei vorherigem Involvement der Zuschauer wirksam und zweckerfüllend sein können.
Der Film Dogville könnte so als Positivbeispiel bezüglich eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Involvement und Verfremdung gesehen werden. Aufgrund der Länge des Filmes, welche eine Fülle an Details ermöglicht, und der Länge einzelner Szenen, welche eben diesen eine tiefergehende, intensiver wahrgenommene Handlung einräumt, wird eine Einfühlung in die Narrationsentwicklung geschaffen. Auf Grundlage dieser zuvor stattgefundenen Involvierung, wird mittels Verfremdungseffekte eine Reflexion herbeigeführt. Daraus wird ersichtlich, dass ohne die aktive Beteiligung der Zuschauer, keine Reflexionspotenziale erkennbar werden. Bestätigt wird dies durch den stilistisch weniger originellen, deutschen Fernsehfilm Der Besuch der alten Dame. Hier ist festzustellen, dass auch mit einer Fülle natürlich anmutender Stilmittel und der Nichtverwendung brechtscher Verfremdungseffekte, keine automatische Einfühlung des Betrachters erzwungen werden kann.
So muss Brechts Theorie des epischen Theaters um eine Bedingung erweitert werden, denn ohne ein vorheriges Mitgefühl und Verständnis für die Figuren oder Situationen, können Verfremdungseffekte niemals ihre volle Wirkung erzielen, nämlich kritisch-reflexive Potenziale freizusetzen.
Schlussfolgernd könnte festgestellt werden, dass sich brechtsche Verfremdungseffekte auf das Reflexionspotenzial der Zuschauer nur auswirken können, wenn die Bedingung der Involvierung des Zuschauers im Vorfeld erfüllt wird, da sie bei sonstiger Verwendung keinen Einfluss auf eine kritische Haltung der Betrachter aufgrund des mangelnden Involvements ausüben. Ebenso ist festzustellen, dass Distanz auch ohne Verfremdungseffekte aufgebaut werden kann, dieser aber nicht zwangsläufig Reflexionsprozesse folgen.